Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über den Liberalismus

Es war einer dieser ersten merklich kühlen Herbstabende an jenem 10. Oktober anno 2013 als ich – am Vortag mein zwölftes Lebensjahr vollendet – meinen Vater in dessen Bibliothek im Dachgeschoss aufsuchte. Er verbrachte viel Zeit dort oben. Dreimal in der Woche, nach dem gemeinsamen Abendessen im Kreise der Familie, wenn mein Vater sich mit seiner Pfeife, die verlässlich nach Vanille duftete und einer Kanne frischen Pfefferminztees, voller Freude für einige Stunden in den Raum zurückzog, den er liebevoll „das Zimmer der großen Geister“ nannte, tauchte er ab in eine Welt, die er nach sorgfältigem Studium uns allen zu passender Stunde zur Verfügung stellte.

Schon früh hatte ich gelernt, dass die Vergangenheit einer der besten Lehrmeister ist und es sehr viel weniger Leid auf der Welt geben würde, wenn wir nicht darauf bestehen würden, die gleichen Fehler immer wieder zu machen und dennoch ein anderes Ergebnis zu erwarten.

Dieser Oktoberabend schien mir ein besonderer Abend zu sein. Mein Vater wirkte seit einiger Zeit bedrückt, fast schon traurig, so als würde er sich um seine Familie große Sorgen machen. Er war an diesem Abend schweigsam, kein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht, kein übliches, liebevolles „Gezänk“ am Abendbrottisch. Es war viel zu ruhig! Eine besondere Stimmung nahm von mir Besitz; der unbedingte Wunsch, den Grund hierfür herauszufinden trieb mich noch schneller als üblich die Stufen hinauf.

Wie immer stand die Tür weit offen und mein Vater breitete seine Arme aus, so dass ich mich an ihn kuscheln konnte, während er in seiner Lektüre versank. Es waren diese perfekten Stunden, Stunden, die mir unendlich viel bedeuteten. Auch an diesem Abend, ein Abend, wo wir beide das Gefühl hatten, nicht nur wegen der einsetzenden äußeren Kälte eine warme Decke zu benötigen, wurde aus seinem stillen Lesen ein Gespräch zwischen uns über das, was er dort las.

Ich werde diesen 10. Oktober niemals vergessen, so eindringlich war das, was mein Vater mir von diesem Abend an beibrachte. Aufmerksam lauschte ich seinen Worte: “Nach liberaler Auffassung besteht die Aufgabe des Staatsapparates einzig und allein darin, die Sicherheit des Lebens und der Gesundheit, der Freiheit und des Sondereigentums gegen gewaltsame Angriffe zu gewährleisten. Alles, was darüber hinausgeht, ist von Übel. Wenn grundsätzlich der Mehrheit der Staatsangehörigen das Recht zugestanden wird, einer Minderheit die Art und Weise, wie sie leben soll, vorzuschreiben, dann ist es nicht möglich, bei dem Genusse von Alkohol, Morphium, Opium, Kokain und ähnlichen Giften Halt zu machen.

Warum soll das, was für diese Gifte gilt, nicht auch von Nikotin, Coffein und ähnlichen Giften gelten? Warum soll nicht überhaupt der Staat vorschreiben, welche Speisen genossen werden dürfen, und welche, weil schädlich, gemieden werden müssen? Auch beim Sport pflegen viele mehr zu tun als es ihre Kraft erlaubt. Warum soll nicht auch hier der Staat eingreifen? Die wenigsten Menschen wissen in ihrem Liebesleben Maß zu halten… Soll nicht auch hier der Staat eingreifen? Noch schädlicher als alle diese Genüsse aber, werden viele sagen, ist die Lektüre von schlechten Schriften. Soll man einer auf die niedrigsten Instinkte des Menschen spekulierenden Presse gestatten, die Seele zu verderben? Soll man die Schaustellung unzüchtiger Bilder, die Aufführung schmutziger Theaterstücke, kurz all die Verlockungen zu Unsittlichkeit nicht hindern? Und ist es nicht die Verbreitung falscher Lehren über das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen und Völker ebenso schädlich?…

…Wir sehen, sobald wir den Grundsatz der Nichteinmischung des Staatsapparates in alle Fragen der Lebenshaltung des einzelnen aufgeben, gelangen wir dazu, das Leben bis ins Kleinste zu regeln und zu beschränken. Die persönliche Freiheit des einzelnen wird aufgehoben, er wird zum Sklaven des Gemeinwesens, zum Knecht der Mehrheit. Man braucht sich gar nicht auszumalen, wie solche Befugnisse von böswilligen Machthabern mißbraucht werden könnte. Wenn man der Mehrheit das Recht gibt, der Minderheit vorzuschreiben, was sie denken, lesen und tun soll, dann unterbindet man ein für alle Male allen Fortschritt.“

Mein Vater beobachtete meine Reaktion und fuhr dann fort: „Jedermann wird es verstehen, daß der Arzt dem Kranken empfiehlt, auf die Annehmlichkeit, die der Genuß (einer) schädlichen Speise gewährt, zu verzichten, um die Schädigung des Körpers zu meiden. Doch im gesellschaftlichen Leben will man es anders haben. Wenn der Liberale bestimmte volkstümliche Maßnahmen widerrät, weil er von ihnen schädliche Folgen erwartet, dann schilt man ihn volksfeindlich und preist den Demagogen, der ohne Rücksicht auf die späteren Folgen das empfiehlt, was im Augenblick zu nützen scheint.“

Obwohl ich noch sehr jung war und vieles für mich, was in der Welt damals um mich herum geschah, zwar ein unbestimmtes Gefühl des Unwohlseins auslöste, ich dieses aber nicht vollständig zuordnen konnte, wurde ich bei den Zeilen, die mein Vater mir vorlas, auffallend hellhörig.

Er fuhr fort: „Die antiliberale Politik ist Kapitalaufzehrungspolitik. Sie empfiehlt, die Gegenwart auf Kosten der Zukunft reichlicher zu versorgen.  Das ist ganz dasselbe, was sich im Fall des Kranken, von dem wir gesprochen haben, begibt; in beiden Fällen steht einem reichlicheren Genuß im Augenblick schwerer Nachteil in der Zukunft gegenüber. Wenn man angesichts dieses Dilemmas davon spricht, daß Hartherzigkeit gegen Philantropie steht, dann ist man unehrlich und verlogen. Dieser unser Vorwurf richtet sich nicht nur gegen die Politiker des Alltags und gegen die Presse der antiliberalen Parteien. Nahezu alle „sozialpolitischen“ Schriftsteller haben sich dieser unehrlichen Kampfweise bedient.“

Aus meinem kindlichen Verständnis heraus wurde mir die Tragfähigkeit dieser Zeilen bewusst und ich fragte meinen Vater nach der Quelle. „Nun“, sagte er „dieser Text stammt von Ludwig von Mises aus seinem Buch Der Liberalismus, welches 1927 erschienen ist und dessen Todestag sich heute zum vierzigsten Mal jährt. Er war einer der ganz wenigen Volkswirtschaftler, der dem Liberalismus gut gesonnen, ja diesen sogar mit aller Hingabe verteidigt hat und dies zu einer Zeit als die Welt die Befürworter einer freien Gedankenwelt im besten Fall ignorierten, im schlimmsten Fall mit dem Tod bestraften.“

Ich war sprachlos – all das, was ich da auszugsweise zu hören bekommen hatte, passte für mich überhaupt nicht in das Bild, was mir im Allgemeinen gezeichnet wurde. In der Schule wurde mir beigebracht, dass liberal denkende Menschen immer und ausnahmslos Egoisten sind, die außer ihrem eigenen Wohl nichts anderes im Blick haben; Menschen, die verachtenswert sind, weil sie ihr eigenes Leben nicht geringer einschätzen als das der anderen. Menschen, die nur am Geldscheffeln interessiert sind und durch ihre Gier neben der Wirtschaft auch jede Moral zerstören. Menschen, die rücksichtslos zu ihrem eigenen Vorteil anderen schaden und nur diejenigen für den Liberalismus eintreten, für die jegliche Ethik ein Fremdwort ist.

Ich habe das schon damals nicht verstanden, bedingt doch das Wort „Freiheit“ grundsätzlich etwas Positives. Für mich war es merkwürdig, dass das Glück der Welt darin liegen sollte, dass wir alle die gleichen Bedürfnisse und Wünsche haben und sicher zufriedener seien, wenn fremde Menschen in Megazentralen für uns Entscheidungen treffen. Ich begriff nicht, warum eine Behörde mit 50.000 Mitarbeitern, von denen wahrscheinlich die meisten niemals in ihrem Leben ein Unternehmen erfolgreich geführt oder in verantwortlicher, persönlich haftender Position gewesen sind, der Meinung sein konnten, einem Kontinent mit 500 Millionen Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen.

Mir war nicht klar, wieso die Menschen einer anonymen Behörde mehr vertrauten als sich selbst und warum sie sich nicht mit Händen und Füßen wehrten, wenn ihre Interessen wie auf einem Bazar weit unter Preis verramscht wurden.

Mir fiel auf, dass ich mich irgendwann nicht mehr getraut habe, diese Fragen zu stellen. Selbst meine Mitschüler beschimpften mich, ich sei „rechts“ und sahen mich an, als hätte ich eine ansteckende, tödliche Krankheit. In diesem Moment nahm ich mir vor, meine Eltern bei nächster Gelegenheit darum zu bitten, mir zu erklären, warum links besser als rechts sein soll und warum ich so wenig darüber lese, welches Unrecht – verursacht durch andere Völker – überall auf der Welt geschieht und so viel über das Unrecht, was in diesem Land selbst lange vor der Geburt meiner Eltern passiert ist.

Ich war zutiefst verwirrt; meine Eltern hatten zwar immer Ihr Bestes gegeben, mich zu einem selbstbewussten, eigenständigen und verantwortungsvollen Leben zu ermutigen, aber ich stellte fest, dass die dauerhaften Beschallungen des genauen Gegenteils durch mein sonstiges Umfeld mich doch ziemlich für sich eingenommen hatten. Die Aussicht auf ein moralisch einwandfreies, „sinnvolles“ und korrektes Leben, dass mir gewiss sei, wenn ich meine persönliche Freiheit (natürlich nur zu meinem Besten) einschränken und der weitest gehenden Aufgabe meiner Interessen zum „Wohle der Allgemeinheit“ zustimmen würde, erschien mir sehr verlockend.

Ich begann mich ernsthaft zu fragen: „Ist es vielleicht gar nicht so moralisch einwandfrei, was mir da eingeredet wird? Gebe ich mein Leben in die Hände derjenigen, die an meinem Wohlergehen überhaupt gar nicht interessiert sein können? Deshalb nicht daran interessiert sein können, weil es ihren eigenen Interessen komplett zuwiderläuft und sie emotional nicht im Geringsten an mir hängen? Was wäre, wenn ich für dumm verkauft und die Freiheit verteufelt wird, um mich besser kontrollieren zu können? Wenn ich auf salbungsvolle Worte hereinfalle und in mein eigenes Verderben laufe? Wenn ich nicht erkenne, dass das ausgesprochene Verbot, was mir heute noch in den Kram passt, morgen eines sein kann, was mir schadet?

Ziemlich verloren muss ich wohl auf meinen Vater gewirkt haben, der mir versprach, mich in den nächsten Tagen noch viel mehr verwirren zu wollen. Nach drei Nächten und drei Tagen, der mir blieben, um mich auf das Kommende vorzubereiten.

Dies ist der erste Teil einer Serie, die in respektvoller Erinnerung an den herausragenden österreichischen Ökonomen Ludwig von Mises (1881 – 1973) in den nächsten sieben Vater-Tochter-Gesprächsintervallen erscheint.

Zweiter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Österreichische Schule der Nationalökonomie

Dritter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Freiheit und den Frieden

Vierter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Gleichheit vor dem Recht

Fünfter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Sozialpolitik

Sechster Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über billiges Geld

Siebter Teil: Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über die Feinde der Freiheit

26 Gedanken zu „Ein Mann – Ein Wort! – Ein Gespräch zwischen Vater und Tochter über den Liberalismus

  1. Hallo! Ihr Vater erinnert mich an meinen Großvater bei dem ich aufgewachsen bin. Eine sehr schöne und lebendig erzählte Story, mit allzuwahrem Kern.
    „Wenn grundsätzlich der Mehrheit der Staatsangehörigen das Recht zugestanden wird, einer Minderheit die Art und Weise, wie sie leben soll, vorzuschreiben“. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, dass es sich selbst um eine Mehrheit handelt – jedenfalls wenn man vor einer Wahl auch die „richtigen“, ehrlichen Fragen stellen würde.
    Bin auf die Reaktionen gespannt: Sicher sind wir vom Teufel großgezogen worden!
    Herzliche Grüße

  2. Hallo alphachamber,

    herzlichen Dank, ja, da haben Sie vollkommen recht. Ludwig von Mises konnte sich wohl selbst in seinen kühnsten Träumen zur damaligen Zeit nicht vorstellen, dass hierzu einmal einige wenige Größenwahnsinnige reichen würden.

  3. Sehr geehrte Frau Kablitz,
    so sehr ich den vorliegenden Artikel auch schätze, eines kann ich Ihnen beim besten Willen nicht glauben: dass Sie – wie im ersten Satz geschrieben – am Vorabend des 10. Oktober anno 2013 Ihr zwölftes Lebensjahr vollendet haben. Wenn ich mir Ihr Foto so ansehe, kann es sich wohl nur um den 10. Oktober 2003 handeln? 😉

  4. “Nach liberaler Auffassung besteht die Aufgabe des Staatsapparates … darin, die Sicherheit … des Sondereigentums gegen gewaltsame Angriffe zu gewährleisten…”

    Mit “Sondereigentum” ist demnach kein gewöhnliches, sondern ein besonderes gemeint. Was könnte das Besondere daran sein gegenüber gewöhnlichem Eigentum? Freiheit des Eigentümers kann (muss jedoch nicht) zu Ausbeutung anderer führen, so wird es zu “Sondereigentum”. Das Besondere daran ist, dass ein solches Eigentum dem Eigentümer leistungslose Einkommen gewährt. Diese müssen -nach liberaler Auffassung- gegen gewaltsame Angriffe gesichert werden. Das sollten wir zu verhindern suchen, denn die meisten von uns können freilich nicht zu jenen besonderen Eigentümern gehören, sondern müssen deren leistungslose Einkommen erarbeiten!

    Beseitigen wir die leistungslosen Einkommen, kommt die Freiheit auch zu uns!

  5. den wiederum ausgezeichneten Artikel nehme ich mal zum Anlass mich für die vielen interessanten Artikel zu bedanken.
    Bin schon gespannt auf die weiteren Artikel dieser Reihe…

  6. Lieber Silber-Engel,

    Ihre Einstellung ist mir bekannt. Was mich aber wundert ist, dass Sie mich immer wieder bekehren wollen und den Fehler bei der Wirkung, nicht bei der Ursache verorten. Ich weiss, dass Sie die Problematik im Zins sehen, der auf Einkommen erzielt wird. Ich sehe das anders und ich habe die für mich einzig logische Sichtweise mehrfach sehr genau dargelegt. Es leuchtet mir nicht ein, warum Sie gerade hier in diesem Blog nicht umhin können, mich stets eines Besseren belehren zu wollen.

  7. Ein sehr schöner Text. Mir ist allerdings bei dem Beispiel mit Arzt eine andere Sichtweise durch den Kopf gegangen, wo der Arzt stellvertretend für einen bevormundenden Staat steht:

    Erstens: Wenn jemand nicht auf seinen Arzt hört, ist es seine Wahl. Die meisten würden, denke ich, mit Empörung reagerien, wenn ihnen der Arzt nicht nur Empfehlungen zu ihrem eigenen Wohle machen dürfte, sondern durch die Polizei unterstützt hart vorschreiben könnte. Warum sollte man dann Gesetzgeber und Regierung solche Rechte geben? (Bei dem Arzt kann man eine teilweise Parallelle mit http://en.wikipedia.org/wiki/Quitters_Inc sehen.)

    Zweitens: Historisch gesehen haben Ärzte viel blödsinn empfohlen und gemacht—teilweise zu dem Punkt, dass die Patienten ohne Ärzte besser klargekommen wären. Die Gesellschaft ist aber noch schlechter von den Wissenschaften verstanden als der menschliche Körper…

  8. @Silber-Engel: „Beseitigen wir die leistungslosen Einkommen, kommt die Freiheit auch zu uns!“

    Sofern sich Ihr Appell gegen sämtliche Studien-Abbrecher in der Politik richtet, kann ich diesem nur vollen Herzens zustimmen.

  9. @Silber-Engel 11. Oktober 2013 um 11:16
    „Beseitigen wir die leistungslosen Einkommen, kommt die Freiheit auch zu uns!“
    Großartige Idee, also den Staat (alle Staaten)und alle seine Kostgänger abschaffen. Ich bin dabei. Haben Sie schon eine Idee, was da als erstes zu tun wäre?

  10. Liebe Frau Kablitz,

    vielen Dank für diesen schönen und Appetit auf mehr machenden Text. In einer Ihrer Antworten auf einen Leserkommentar schreiben Sie:

    „Ich weiss, dass Sie die Problematik im Zins sehen, der auf Einkommen erzielt wird. Ich sehe das anders und ich habe die für mich einzig logische Sichtweise mehrfach sehr genau dargelegt.“

    Ich hatte bisher den Eindruck, dass Sie eine, wenn nicht die Hauptursache in dem ungedeckten Papiergeld, seiner Erzeugung und dem damit zusammenhängenden Zinseszinssystem (nicht den Zins!) sehen. Könnten Sie das bitte richtig stellen bzw. präzisieren (gern unter Verweis auf Ihre ältere Artikel)?

    Gruß

    Rob

  11. Lieber Rob,
    vielen Dank für Ihren Beitrag und sehr gern stelle ich meine Ansicht klar. Ihr Eindruck ist genau richtig. Das, was ich in dem Kommentar kritisiert habe, ist das Gesellsche Modell auf das sich „Silber-Engel“ bezogen hat. Dort wird dafür plädiert, dass der Zins das Problem unseres Geldsystems darstellt und abgeschafft gehört. Das sehe ich eben genau nicht so, da der Zins mehrere sehr sinnvolle und wichtige Eigenschaften in sich trägt, die in einer freien Marktwirtschaft (die wir eigentlich noch nie hatten) von großer Bedeutung sind. Hier einige frühere Artikel, wo ich dies zu erklären versuche.

    Der Geruch des Blutes

    Wenn billiges Geld ein Gesicht hätte…

    Vom Geld, das keines mehr ist!

    Zinsen sind böse…!

    In den kommenden Teilen dieser Reihe werde ich auf das ungedeckte Papiergeld und dessen schädliche Folgen auch eingehen. Denn in diesem „Falschgeldsystem“ ist der Zins und dann der Zinseszins (der vor allem verschuldete Staaten durch die permanente Prolongation der Altschuld trifft) in der Tat ein großes Problem.

    Ist dies so für Sie in Ordnung oder fehlt noch etwas?
    Beste Grüße

  12. verehrte frau kablitz,
    schön geschrieben, aber einen grundfehler des liberalen weltwahrnehmens können sie nicht aus der welt räumen, nämlich die grundverhaftetheit im verstand. was sie da schreiben, klingt alles sehr vernünftig. ich kann mich des verdachts nicht erwehren, daß sie der vernunft zuviel raum beimessen und gegen unvernünftige argumente sicherlich sehr intolerant vorgehen würden.
    ein vernünftiges argument lautet: der staat greift ein, weil das wohl aller über das wohl des einzelnen stellt.
    ein unvernünftiges würde lauten: der staat greift ein, weil er es kann. und am ende wird immer das verbot über die gewährung siegen, denn die mehrheit will das gleiche und ist immer gegen das besondere. kurzum: da das liberale immer in der minderheit sein wird, bleibt ihr am ende gar nichts weiter übrig, als sich dem diktat der mehrheit zu beugen und gerade darin ihre funktion zu erkennen. katzengeheul.

  13. Hallo Frau Kablitz,

    mit Ihrer Konkretisierung vom 12.10, 10:29, stellt es sich bereits viel geschmeidiger dar. Und im Grundsatz sehe ich das auch genauso wie Sie.

    Eine Frage bei der Beurteilung von Sinn und Unsinn des Zinses habe ich mir aber bisher noch nicht beantworten können: “ Wie verhindere ich (auch in einer wirklich freien Marktwirtschaft) die durch Zins und Zinseszins regelmässig weiter zunehmende Vermögenskonzentration?“. Nicht das wir uns falsch verstehen. Vermögen ist nicht perse schlecht. Eine gewisse mögliche Vermögenskonzentration ist auch erforderlich. Aber immer wenn die Vermögenkonzentration in den letzten 2 Jahrhunderten zu stark wurde, funktionierten unsere Gesellschaften nicht mehr so wie sie funktionieren sollten.

  14. Schöner Text. Eine gute Rede, die durchaus viel Wahres beinhalten. Beim Durchlesen ist mir immer wieder durch den Kopf gegangen, dass die meisten sich darin einig sind, dass man sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Wie das ausschauen sollte, das variiert von Gruppe zu Gruppe dann.

    Auch hier entsteht der Eindruck, dass eine Tradition, ein Gruppenbildung die eigenen Gedanken noch verschleiert.

    Im Leben jeden Menschen gibt es starke Persönlichkeiten und wir orientieren uns daran – bis wir begriffen haben, dass jede Regel auch eine Einengung ist. Geht absolute Freiheit? Nein. Geht Zusammen und Zusammenarbeit? Ja. Geht es immer? Nein. Es gibt immer auch Leute, die aus welchen Gründen auch immer etwas anderes wollen – und vieles oder alles daran setzen, es durchzusetzen.

    Ob das nun missverstandene Freiheit ist oder die Freiheit an sich, oder … es liegt im Auge des Betrachters und der Zeit. Besser, des Zeitgeistes. Es ist richtig ihn zu verstehen. Er ist aber nur eine der möglichen Sichtweisen. Lässt man sich dazu hinreissen das Ruder herumzureissen, dann tauscht man nur, die eine Enge gegen die nächste.

    Das Ziel ist es, die Regeln und Haltungen aller zu erkennen – aber nicht, sich diesen zu unterwerfen. Sonst ist man nur unfrei. Und je mehr dabei vin Freiheit geredet wird, umso unfreier ist man meist.

    Wenn die Rede von Leuten ist, die einen nur manipulieren wollen, dann kann man mit gleicher Münze zurückschlagen, wenn man es erkannt hat und die Fahne des Gegenteils hochhalten. Dann macht man aber nur eines, man lässt sich auf deren Schema ein: Divide et impere. Teile und herrsche.

    Teilen ist einfach: Zwinge Deine Leute mit den Worten: „Ich verstehe das nicht“ dazu ihre Meinung immer weiter zu treiben, bald werden sie sich streiten. Werden alles bis ins Detail ausarbeiten und der, der an „der Macht“ ist, kann sich dort beliebig bedienen.

    Es soeht so aus, als könnten Sie sich von den Traditionen und der Unterstützung der Teilung noch nicht lossreissen.

  15. Lieber Skyjumper,

    stimmt, aber wodurch kamen diese Vermögenskonzentrationen zustande? Waren sie erarbeitet? Stand eine gute Idee dahinter? Dann ist, denke ich, dagegen nichts einzuwwenden. Wenn Vermögenskonzetrationen allerdings nur die durch die Inanspruchnahme von Vorteilen und Subventionen zustande kam, durch eine Zunahme an Geld, das nicht auf Werten basiert, dann ist es wohl ein Problem. Aber wie wäre es in einer echten Marktwirtschaft, da wo jeder vor dem Recht gleich wäre? Könnte es dann dieses Ungleichgewicht überhaupt geben? Ich sehe es auch problematisch, wenn jemand, der sehr viel Geld hat, sich den Anwalt kaufen kann, der ihn aus den meisten Miseren rausboxen kann. Das eben dürfte es nicht geben! Dies ist der Inhalt des dritten Teils, ich hoffe, dass ich mein Anliegen dann noch viel deutlicher machen kann.

  16. Lieber Aoerolith,

    nun, eine gewisse Intoleranz gegenüber unvernünfigen Argumenten kann ich in der Tat nicht abstreiten:-) Denn stellt der Staat tatsächlich das Wohl des Einzelnen über alle oder ist er nicht viel eher als Regierung daran interessiert, sein eigenes Wohl sicherzustellen und benutzt zur Rechtfertigung hierzu nur das Argument des Allgemeinwohls, wohl wissend, dass sich sonst Millionen von Menschen gegen ihn stellen würden?

    „denn die mehrheit will das gleiche und ist immer gegen das besondere“, ja, da haben Sie wohl recht, aber wäre hier Intoleranz nicht an der richtigen Stelle? Die Intoleranz, dieser Meinung solange argumentativ gegenüberzutreten, bis immer mehr Menschen „etwas Besonders“ wollen?

  17. Liebe Frau Kablitz,

    danke für die zügige, präzisierende Antwort. Im Grunde genommen haben Sie meinen ursprünglichen Eindruck bestätigt, wobei mir in Ihrer Antwort ein Satz auffiel, der mich zum Grübeln brachte. Es ist etwas, was mich immer wieder bei der Kritik am Zinseszins nachdenklich macht. Sie schreiben:

    „Denn in diesem ‚Falschgeldsystem‘ ist der Zins und dann der Zinseszins (der vor allem verschuldete Staaten durch die permanente Prolongation der Altschuld trifft) in der Tat ein großes Problem.“

    Es ist unbestritten ein mathematisches Problem, welches dem Zinseszins bei der Guthabenvermehrung zukommt, nämlich das des exponentiellen Wachstums. Auch wenn mir bewusst ist, dass die Schulden des einen die Guthaben des anderen sind (und umgekehrt), so sehe ich nicht den mathematischen Zusammenhang, denn im Gegensatz zur Guthabenverzinsung gibt es bei Krediten keinen Zinseszins, der die Schulden analog zu Guthaben exponentiell ansteigen lässt. Dies kommt meines Erachtens in der Diskussion um das Papiergeldsystem zu kurz, da generell die Zinseszinskritik sowohl auf Guthaben als auch Schulden angewendet wird, ohne zu unterscheiden, dass der Zinseszins bei Schulden nicht existiert.

    Könnten Sie dazu bitte etwas schreiben?

    Gruß

    Rob

  18. Lieber Rob,

    aber sehr gern!
    „Dies kommt meines Erachtens in der Diskussion um das Papiergeldsystem zu kurz, da generell die Zinseszinskritik sowohl auf Guthaben als auch Schulden angewendet wird, ohne zu unterscheiden, dass der Zinseszins bei Schulden nicht existiert.“

    Genau wie beim Guthaben kommt auch bei Schulden der Zinseszins zum Tragen und bei den Schulden wirkt er in dem Moment zerstörerisch (übrigens auch der ansonsten gesunde Zins), wo diese Schuld zusätzlich „aus der Luft geschöpft“ wird.
    Ein Beispiel:
    Sie verleihen einem anderen Menschen, wir nennen ihn „X“ einen Betrag von 10.000 € für ein Jahr. Da Sie X nicht besonders gut kennen, Sie für dieses eine Jahr auf die Verfügbarkeit Ihres Geldes verzichten und mit einem Zahlungsaufall (wenn auch nur teilweise) rechnen müssen, vereinbaren Sie mit X einen Zins von 5 % pro Jahr. Nun geht alles gut und Sie bekommen am Ende des Jahres 10.500 € zurück. Da X aber nochmal Geld braucht und alles geklappt hat, geben Sie ihm wieder 10.000 € und vereinbaren aus den gleichen Gründen wieder 5 % pro Jahr an Zins. Dieses Geschäft machen Sie 10 Jahre lang. Nach 10 Jahren haben Sie Ihren Einsatz wieder (10.000 €) und zusätzlich 5.000 € verdient, die X an zusätzlichen Zinsen an Sie bezahlt hat. Er konnte mit Ihrer Leihgabe ein erfolgreiches Geschäft eröffnen und braucht Ihr Geld nun nicht mehr.

    Nun sehen wir uns einen anderen Fall an. Es gelten die gleichen Konditionen, allerdings ist X entweder unzuverlässig oder seine Geschäftsidee kommt nicht gut an. Auf jeden Fall kann er Ihnen nach dem ersten Jahr Ihr Geld nicht zurückzahlen. Da Sie weiter an ihn glauben oder Ihr Geld nicht abschreiben wollen, geben Sie im ein weiteres Jahr Zeit, Ihnen Ihr Geld zurückzubezahlen. Da er aber die vereinbarten Zinsen am Jahresende nicht zahlen konnte, berechnet sich sein neuer Zins auf den Ursprungsbetrag und den nicht gezahlten Zins, also auf 10.500 €. Auch dieses Spiel läuft 10 Jahre lang. Das Problem ist, dass X nun nicht 15.000 € insgesamt an Sie zu zahlen hat, sondern durch den Zinseszinseffekt insgesamt 16.288,95 €.

    Was hier mit kleinen Zahlen schon zu deutlich höheren Schuldbeträgen und auf der anderen Seite zu Guthabensummen führt, wirkt sich natürlich bei den Milliarden, die durch die Welt kreisen, in der Tat bedrohlich aus. Dieses System wird dann ad absurdum geführt, wenn das Geld auch noch aus „dem Nichts“ geschöpft wird und keine Wirtschaftsleistung mehr dahintersteht, die dieses Geld und die zu zahlenden Zinsen hervorbringen kann.

    Ist dies so für Sie nachvollziehbar?
    Herzliche Grüße

  19. Vielen Dank für die prompte und zügige Erläuterung. Ja, so ist es für mich nachvollziehbar. Ich bin bei meinen Überlegungen bisher davon ausgegangen, dass ein Kredit einmalig (und nicht fortlaufend) gewährt und, das ist entscheidend, auch vereinbarungsgemäß pünktlich zurückgezahlt wird. Unter solchen Idealannahmen käme es nicht zum Zinseszinseffekt. Die Realität sieht leider anders aus und belehrt uns immer wieder eines Besseren.

    Danke fürs „Augenöffnen“!

    Gruß

    Rob

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